24.11.2020 17:24
Tierversuchsfreie Methode sagt Toxizität von Nanopartikeln für sicherere industrielle Materialien voraus
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Helmholtz Zentrum München haben gemeinsam mit einer europäischen Forschungsgruppe eine neue tierversuchsfreie Methode entwickelt, um den toxischen Effekt von Nanopartikeln in der menschlichen Lunge vorauszusagen. Ziel ist es, damit die Entwicklung sichererer industrieller Materialien zu erleichtern.
Über die Luft nehmen unsere Lungen täglich eine Vielzahl gefährlicher Partikel auf. Aufgrund ihrer geringen Größe können Nanopartikel besonders tief in die empfindlichen Alveolar-Regionen der Lungen eindringen und dort bereits bei erstmaligem Kontakt Entzündungen auslösen. Bei längerer Belastung der Lunge durch Nanopartikel kann es zu Erkrankungen in Lunge, Herz oder auch Gehirn kommen, sowie zu Lungenkrebs. In der Industrie können gesundheitsgefährdende Nanopartikel während der Produktion und der Verarbeitung, aber auch später während der Zersetzung oder der Verbrennung von Nanomaterialien freigesetzt werden. Trotz wichtiger Fortschritte im Bereich nanotoxikologischer Modelle können derzeitige Testwerkzeuge weder in vitro noch in silico zuverlässige Vorhersagen treffen und in vivo-Ergebnisse ersetzen. Um die Produktion sichererer Materialien zu erleichtern, sind neue Teststrategien erforderlich, die die potenzielle Toxizität von industriellen Nanopartikeln vor und während des Herstellungsprozesses präzise vorhersagen können.
Zelluläre Schlüsselereignisse entdeckt
Am Helmholtz Zentrum München beschäftigt sich die Forschungsgruppe von Dr. Tobias Stöger mit dem Zusammenspiel zwischen Nanopartikeln und Lungenzellen. Dabei wollen sie vor allem besser verstehen, wie genau unser Körper auf fremde Partikel reagiert und entsprechende Entzündungsreaktionen entstehen. Gemeinsam mit Partnern aus dem EU-Projekt „SmartNanoTox” fanden die Forschenden nun heraus, dass für bestimmte Materialien die langfristige Entzündungsreaktion der Lunge auf eine einzige Nanopartikel-Exposition auf zwei bisher unbekannte zelluläre Schlüsselereignisse zurückgeführt werden kann: erstens, einen neuen Quarantäneprozess, d.h. die Ablagerung ausgeschiedener Partikel umhüllt von biologischen Molekülen auf der Zelloberfläche; zweitens, den so genannten Nanomaterialkreislauf, der Aufnahme und Ausscheiden der Nanopartikel zwischen verschiedenen alveolaren Lungenzelltypen bedingt.
„Wir verstehen nun besser, wie anhaltende Entzündungsreaktionen in der Lunge durch Partikel-Zell-Interaktionen entstehen. Die Tatsache, dass wir den Ursprung dieser beiden zellulären Schlüsselereignisse nun genau lokalisieren und quantitativ beschreiben konnten, war der Durchbruch für unsere neue Methode zur Vorhersage toxischer Reaktionen“, erklärt Stöger.
Sicherere Materialentwicklung durch „Safe-by-Design“
Mithilfe von wenigen in vitro-Messdaten in Kombination mit in silico-Modellierung konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die akute bzw. chronische Toxizität von Nanopartikeln und damit den Verlauf von Entzündungsreaktionen in der Lunge für 15 verschiedene Materialien vorhersagen. Stöger fügt hinzu: „Die Fähigkeit, solche Vorhersagen treffen zu können, bedeutet einen Schritt in Richtung „Safe-by-Design“ mit deutlichen Auswirkungen auf die Sicherheit, Geschwindigkeit und Kosteneffizienz in der Materialentwicklung.“
Testen ohne Tierversuche
Derzeitige Testverfahren basieren häufig auf Tierversuchen. Während diese für mechanistische und chronische toxikologische Studien nach wie vor unverzichtbar sind, eignen sie sich weniger für prädiktive Tests im Rahmen einer „Safe-by-Design“-Produktionsstrategie neuer Materialien. Diese Studie bietet eine alternative tierversuchsfreie Methode, die mit in silico-Modellierung kombiniert für Hochdurchsatztests geeignet ist.
Über die Studie
Die in dieser Studie veröffentlichten Ergebnisse stammen aus dem europäischen Forschungsprojekt „SmartNanoTox – Smart Tools for Gauging Nano Hazards“ (EU-Horizont-2020-Projekt Nr. 686098). Das Projekt ist Teil der „EU NanoSafety Cluster“ Initiative, das darauf abzielt, Synergien zwischen Projekten auf europäischer Ebene zu maximieren, die sich mit der Sicherheit von neuen Materialien und Technologien befassen, die durch den Einsatz von Nanoformen ermöglicht werden.
Helmholtz Zentrum München
Das Helmholtz Zentrum München verfolgt als Forschungszentrum die Mission, personalisierte medizinische Lösungen zur Prävention und Therapie umweltbedingter Krankheiten für eine gesündere Gesellschaft in einer sich schnell verändernden Welt zu entwickeln. Es erforscht das Entstehen von Volkskrankheiten im Kontext von Umweltfaktoren, Lebensstil und individueller genetischer Disposition. Besonderen Fokus legt das Zentrum auf die Erforschung des Diabetes mellitus, Allergien und chronischer Lungenerkrankungen. Der Hauptsitz des Zentrums liegt in Neuherberg im Norden Münchens. Das Helmholtz Zentrum München beschäftigt rund 2.500 Mitarbeitende und ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands mit mehr als 40.000 Mitarbeitenden in 19 Forschungszentren.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Tobias Stöger
Helmholtz Zentrum München
Institute of Lung Biology and Disease
E-Mail: tobias.stoeger@helmholtz-muenchen.de
Originalpublikation:
Kokot et al., 2020: Prediction of Chronic Inflammation for Inhaled Particles, the Impact of Material Cycling and Quarantining in the Lung Epithelium. Advanced Materials, DOI: 10.1002/adma.202003913
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler
Biologie, Maschinenbau, Medizin, Umwelt / Ökologie, Wirtschaft
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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